Berufung ermöglichen
Es ist eine beeindruckende Story, die die Washington Post berichtete. Die Geschichte spielte sich vor einigen Jahren an einem kalten Januarmorgen in der Metro Station in Washington, D.C., ab. Scheinbar wie einer von so vielen Straßenmusikern auf der ganzen Welt, spielte auch an diesem Morgen ein Musiker auf seiner Geige in der Metro Station. Achtlos liefen viele Menschen in der Rushhour an ihm vorbei, gedankenverloren den eigenen Tag im Blick. Was sie nicht wussten: Es handelte sich bei dem Geiger um Joshua Bell, einen weltbekannten Violinisten, dessen Konzerte die Säle überall auf der Welt füllen und dessen Tickets heißbegehrt sind. (YouTube, 2008), (Schreiber, 2008)
1. Der richtige Rahmen
Ganz klar, auf der Bühne, in einem Konzertsaal, wäre Joshua Bell die volle Aufmerksamkeit zuteil geworden. Er wäre mit seiner Kunst richtig wahrgenommen worden. Sein Talent, sein Können wären nicht so einfach ignoriert worden. Die Menschen hätten seine Darbietung, sein Spiel genossen. So wäre es mit Sicherheit gewesen, doch an jenem Morgen in der Metro, da war von dem allem nichts zu sehen und zu spüren. Warum nicht? Weil etwas fehlte. Und das nenne ich den richtigen Rahmen. Es fehlte der richtige Rahmen, damit das Optimale entstehen und als solches wahrgenommen werden konnte. Ich denke nicht, dass Josua Bell weniger gut spielte. Auch hatte er kein schlechteres Instrument zur Verfügung. Im Gegenteil, er spielte auf seiner Stradivari. Ich denke auch nicht, dass es ihm persönlich zu sehr zusetzte, dass die Menschen achtlos an seiner Musik, seiner Kunst, seiner Profession vorbeiliefen. Es handelte sich um ein Experiment und er wusste vermutlich, auf was er sich einließ. Soweit so gut.
Szenenwechsel: Ihr Unternehmen, Ihr Arbeitsumfeld. Wie sieht der Alltag aus? Ist es manchmal so, dass Sie in Ihrem Beruf gerne auf der Bühne ständen, doch irgendwie geht nichts so richtig vorwärts? Wünschen Sie sich in Ihrem Team Profis, die performen, doch irgendwie fehlt den Leuten das Feuer? Sie sind möglicherweise selbst jemand, der nicht so richtig gestalten will oder fehlt der Gestaltungswille in Ihrem Team? Klar, die Tage sind mal so und mal so und ich werde Ihnen nun auch nichts von optimierter Selbstentwicklung erzählen. Ich möchte auf etwas grundsätzliches abheben. Das gilt meines Erachtens fürs Business und fürs Privatleben. Die Grenzen sind sowieso meist fließend.
Wünschen Sie sich in Ihrem Team Profis, die performen, doch irgendwie fehlt den Leuten das Feuer?
Es geht dabei um Sie. Um Ihre Rolle im Alltag, egal ob Sie als Führungskraft tätig, Mitarbeiter sind oder im Privatleben in unterschiedlichsten Funktionen. Die Generalaussage „Gestalten Sie. Sonst werden Sie gestaltet.“ von Frau Dr. Sonja Radatz kennen Sie ja eventuell. Es ist relativ einfach und doch oft so schwer. Dabei stellt sich nur die Frage, ob Sie diese eine Entscheidung treffen. Da wären wir also bei Ihnen. Doch denken Sie mal ein Stück weiter. Wenn Sie Gestalter sind, sollten Sie das nicht nur für sich so sehen. Im Gestalten liegt auch die Aufgabe dafür zu sorgen, dass Ihr Umfeld von Ihnen profitiert. Daher drängt sich die Frage auf, was Sie für die Menschen in Ihrem Umfeld fördernd unternehmen können.
2. Gestalter gestalten!
Wenn Sie Verantwortung tragen, fokussieren wir uns hier mal auf das Business, dann ist es Ihre Aufgabe dafür zu sorgen, dass die Menschen in Ihrer Nähe sich weiterentwickeln können. Entwicklung braucht Möglichkeiten! Berufung, da wären wir beim Titel, braucht Möglichkeiten.
Es braucht immer zwei dazu. Einen der sich weiterentwickeln will, der vorankommen will und einen, der das zulässt.
Daher zurück zu unserer Anfangsgeschichte und ein paar Fragen:
Bieten Sie den Menschen in Ihrem Unternehmen den richtigen Rahmen?
Was würde es bedeuten, wenn den Menschen in den Unternehmen der richtige Rahmen geboten würde?
Welche Auswirkung hat es für die Menschen in Ihrem Unternehmen, wenn sie richtig wahrgenommen werden?
Welches Potenzial schlummert hier für beide Seiten – für Ihr Unternehmen und für die Menschen?
Ich bin überzeugt, dass Menschen ihre Berufung leben können, wenn das Umfeld entsprechend optimal ist. Sie sollten es dabei aber nicht nur den Mitarbeitern allein überlassen und abwarten, bis diese auf Sie zukommen. Sie müssen den ersten Schritt machen und bereit sein, diesen Rahmen zu ziehen. Das fängt also viel früher an, als man zunächst denkt. Es fängt bei Ihnen und vor allem in Ihnen an. Sie müssen dazu bereit sein und dann quasi Möglichkeiten schaffen. Denn möglicherweise wissen Sie ja: „Leadership bedeutet Ermöglichen.“ (Kühmayer, 2016).
3. Der förderliche Rahmen
Es braucht nicht nur den richtigen Rahmen, nein es braucht vielmehr einen förderlichen Rahmen. Ist klar, was damit gemeint ist? Einen Raum, in dem Fördern und Fordern ausgewogen geschieht. Gute Führung in Unternehmen bastelt nicht an ihren Mitgliedern herum. Der förderliche Rahmen ermöglicht es den Menschen, ihre Potentiale unmittelbar bzw. sukzessive zu entfalten (Winterheller, 2013). Die Bereitstellung und die Aufrechterhaltung des förderlichen Rahmens ist daher auch keine Eintagsfliege. Sie ist tägliche Führungsaufgabe.
4. Führung muss heute einen anderen Ton anschlagen
Spätestens durch die heutigen Veränderungszeiten angestoßen, dem disruptiven Wandel oder wie immer Sie diese Veränderungen bezeichnen, hat Führung eine andere Rolle als früher. Es ist nicht mehr das Mitteilen einsam getroffener Entscheidungen oder schlicht der Entscheidungen „von oben“. Führung muss heute einen anderen Ton anschlagen. Bleiben wir für das neue Bild der Führung wiederum bei der Musik.
Das Bild des Dirigenten hat sich dort bereits über die Jahrzehnte verändert. Alondra de la Parra beschreibt die Einstellung eines Dirigenten, wie folgt: Ein Dirigent sollte dem Orchester dienen (Para, 2016). Dieses Zitat der mexikanischen Dirigentin zeigt ihr Führungsverständnis, ihre Grundhaltung als Führungskraft.
"Ein Dirigent sollte dem Orchester dienen."
Alondra de la Parra
Es scheint sich also in der Musik – abkehrend vom früher oft beschriebenen „Magier am Pult“ - ein neues Führungsverständnis breit zu machen oder zu entwickeln. Ähnliches passiert gerade auch im Unternehmensbereich, muss dort aber noch mehr verortet werden.
5. Die Rolle der Führungskraft
Nun weiß ich, dass der Begriff „dienen“ vielleicht suggerieren kann, die Führungs-kraft müsse nur fördern. Dem ist nicht so. Es geht vielmehr um das grundsätzliche Verständnis für Führung. Entscheidende Bedeutung für die Unternehmens-entwicklung und die Entwicklung der Menschen im Unternehmen, kommt nämlich der Führungskraft zu. Maßgebend dafür ist daher die Haltung der Führungskraft oder des Entscheiders.
Und da zeigt es sich, ob Sie nur erwarten, dass Sie gute Leute im Team haben oder ob Sie bereit sind, etwas dafür zu tun, dass Sie gute Leute haben.
Wenn ich sage, "Leadaership is an inside job.", dann meine ich damit:
Sie haben es in der Hand, was geschieht. Wenn Sie nicht gestalten, dann werden Sie auch in Ihrem Unternehmen gestaltet. Sie haben die Wahl, eine Entscheidung zu treffen. Und dafür gibt es nur eine wichtige Frage: Treffen Sie die Entscheidung oder treffen Sie sie nicht. Gleich, was Sie tun: Es hat Konsequenzen.
Ein sehr schönes Beispiel, wie es aussehen kann, wenn so eine Entscheidung getroffen wurde und wie das aussieht, was ich hier zu beschreiben versuche, zeigt Sir Simon Rattle, langjähriger Chefdirigent der Berliner Philharmoniker.
In einem YouTube-Video anlässlich seines Besuches an der Hochschule für Musik in Karlsruhe, ist schön zu sehen, was mit einem förderlichen Rahmen gemeint zu sehen (Sir Simon Rattle zu Gast an der HfM Karlsruhe, 2015). Vielleicht rufen Sie dieses Video einmal auf und schauen es sich an.
Sie haben es in der Hand, was geschieht.
Schauen wir dabei genauer hin und versetzen wir uns in die Situation der Studenten: Einer der weltbesten Dirigenten probt mit dem Hochschulorchester. Während des Solospiels eines Oboisten unterbricht Sir Rattle dieses. Was wäre unsere erste Reaktion? Kritik, Konfrontation mit Fehlern – und das vor allen anderen? Was letztlich passiert, ist beeindruckend. Der junge Oboist, war zunächst so in sein Spiel versunken, dass er vom Nebenmann angestoßen und auf die Unterbrechung aufmerksam gemacht werden musste. Sir Rattle sagte dann Folgendes:
"Es ist so schön, ich will nicht wirklich etwas sagen. Aber: Es gibt Raum für mehr. I try to give you space, I try to make a frame. Really fill the frame. We will be with you. It’s great. You can do whatever you like." Sir Simon Rattle
Diese Szenen sind für mich Sinnbild für die Aufgabe einer Führungskraft. Sie muss die Dinge ansprechen – und zwar klar. Sie ist es, die die Verantwortung trägt. Sie sollte ebenso ermuntern und dann weiterführen, wie in diesem Video zu sehen ist.
Gelingt es, diesen förderlichen Rahmen zu platzieren, zu bauen, werden sich für Unternehmen und Mitarbeiter völlig neue Potentiale erschließen.
Im Detail: Da ist zunächst die Einleitung. Keine Spur von Kritik, vielmehr hebt Sir Rattle den Musiker mit seiner positiven Bemerkung nach oben. Er beginnt positiv „Es ist so schön…“. Sein „Aber“ indes öffnet dann den Raum, den er selbst auch beschreibt: Da ist noch mehr möglich.
Das „Aber“ nimmt den Musiker und auch den Betrachter mit, indem Sir Rattle nun beschreibt, was er als Dirigent machen wird. Es geht ihm hierbei aber gar nicht um sich als Dirigent. Im Gegenteil. Er nimmt sich ganz zurück. Der Musiker und die Musik sollen im Vordergrund stehen. „I try to make a frame“ - Er zeichnet bildlich den Rahmen in die Luft und ermuntert den jungen Musiker, in dieses „Mehr“ hineinzugehen, sich darauf einzulassen. „We will be with you“ – eine vertrauensfördernde Maßnahme, die ihn einlädt, etwas zu wagen und so Neues zu schaffen: Keine Sorge, da passiert nichts, signalisiert er ihm dadurch. Wir alle unterstützen dich. Es ist bereits jetzt schon großartig. Suchs dir aus und mach es, wie du es willst.
Das Video ist ein Genuss. Schaut man es weiter, dann sieht man die Freude und den Enthusiasmus dieses jungen Musikers. Ebenso die Wertschätzung, die Sir Rattle ihm am Ende des Solos entgegenbringt. „I try“ – bevor ich versuche, entsteht der Gedanke, etwas zuzulassen, zu ermöglichen. Es zeigt sich m.E. eine grundsätzliche Haltung, Menschen über ihr bisheriges Können hinauszuführen. Weit weg vom Egotrip vieler Führungskräfte, hin zum dienenden, fördernden Führungsstil. Ganz, wie Alondra de la Parra es ausdrückte. Das kann nur einer entsprechenden Grundeinstellung entspringen, wissend um die gegenseitige Abhängigkeit, um gemeinsam das große Ganze zu erreichen.
Ermuntern, neue Räume ermöglichen und einen großen Rahmen ziehen. Einen Entwicklungs- und Entfaltungsraum aus der Innenperspektive zu schaffen. Gleichzeitig nach Außen aber auch einen Schutz-Rahmen. Gelingt es, diesen förderlichen Rahmen zu platzieren, zu bauen, werden sich für Unternehmen und für die Mitarbeiter völlig neue Potentiale erschließen, entsprechend Gerald Hüther: "Wir brauchen Gemeinschaften, deren Mitglieder einander einladen, ermutigen und inspirieren, über sich hinauszuwachsen."(Hüther, 2019)
Die Verantwortung im Bereich der Unternehmensführung, solche Potentiale zu fördern und Möglichkeiten zu schaffen, liegt eindeutig bei den Führungskräften. Die Potentiale sind für beide Seiten – für die Mitarbeiter und die Unternehmen – unermesslich. Es braucht dafür den richtigen Rahmen und die richtigen Umgebungsbedingungen, damit optimale Performance möglich ist. Es ist sicherlich interessant Straßenmusik zu machen. Doch wenn ihr Team auf die Bühne gehört, dann ist dort der richtige Platz und dort kann das Team performen. Dort – am richtigen Platz - zeigt sich dann auch der Unterschied zwischen Job und Berufung.
Bildnachweis: shutterstock.com I Nerijus Juras
Literatur
Hüther, G. P. (2019). Akademie für Potentialentfaltung. Von https://www.akademiefuerpotentialentfaltung.org/ abgerufen
Kühmayer, F. (2016). Leadershipreport. Frankfurt a.M. / Wien: Zukunftsinstitut.
Parra, A. d. (12. 08 2016). Ein Dirigent sollte dem Orchester dienen. (I. W. Hetscher, Interviewer)
Schreiber, W. (2008). Kleingeld für den Star. SZ - Süddeutsche Zeitung.
Sir Simon Rattle zu Gast an der HfM Karlsruhe. (2015). Von YouTube: https://youtu.be/8dsNS4jOAu0?t=2m55s abgerufen
Winterheller, M. (2013). Kontinuum und Flow. Graz.
YouTube. (2008). Von https://youtu.be/hnOPu0_YWhw abgerufen